DOSSIER PVB MAGAZIN-E 2 2023

Auf zum feministischen Streik: stärker zusammen!

Lohn- und Rentenungleichheit, Diskriminierung, Belästigung und Gewalt… Die tatsächliche Gleichstellung ist in der Schweiz noch lange nicht erreicht. Um etwas zu bewegen, müssen wir uns alle mobilisieren, denn Gleichstellung ist ein Kampf gegen die Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, aber auch gegen alle anderen Faktoren, die uns unterscheiden. Unsere Unterschiede sind unsere Stärke: Alle auf zum feministischen Streik!

Exkurs zu Intersektionalität

Am 14. Juni 2023 wird wieder feministisch gestreikt. Viele hoffen, dass dieser Streik diverser und inklusiver wird als die vorherigen Streiks. Denn mehrfachmarginalisierte Menschen wurden in der feministischen Bewegung zu lange unsichtbar gemacht. Auch deshalb ist der diesjährige Streik immer noch dringend notwendig. Der Kampf von FINTA Personen um Lohngleichheit, Schutz vor sexualisierter Gewalt und besserer Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben ist noch lange nicht abgeschlossen. Menschen mit Behinderungen und ihre Rechte werden erst allmählich im breiteren gesellschaftlichen Diskurs sichtbar. Auch über
strukturellen Rassismus in unserer Gesellschaft wird erst zögerlich gesprochen. Der Streik wird dieses Jahr als feministischer Streik ausgerufen. Das zeigt, dass sich die Bewegung intersektionaler versteht und mehr Perspektiven inkludieren will. Unter dem Begriff Feminismus vereinen sich Frauen, intergeschlechtliche, non-binäre, trans und agender (FINTA) Personen. Doch worum geht es überhaupt bei Intersektionalität?

Den Grundbaustein für das Konzept der Intersektionalität legte die US-Amerikanerin Sojourner Truth Mitte des 19. Jahrhunderts. In ihrer berühmten Rede «Ain’t I a Woman» klagte die ehemalige versklavte schwarze Frau die unterschiedliche Behandlung Schwarzer und weisser Frauen an. Im Unterschied zu weissen Frauen mussten schwarze Frauen schwere körperliche Arbeiten verrichten, was nicht ins Frauenbild passte. Dadurch wurde ihnen ihr Frausein abgesprochen. Diese Entmenschlichung wurde mit einer Übersexualisierung gekoppelt, wodurch sexualisierte Gewalt gegen sie legitimiert wurde. Über ein Jahrhundert später, in den 1970er Jahren, knüpften schwarze queere Feminist:innen des Combahee River Collective mit ihrem Statement an Truths Rede an. Darin erklärten sie die eigenen Unterdrückungserfahrungen als Ausgangspunkt ihrer herrschaftskritischen Gesellschaftsanalyse. Ihre These lautete: Da sie von mehreren Unterdrückungssystemen betroffen sind, würde ihre vollständige Befreiung auch die Überwindung all jener Unterdrückungssysteme (Rassismus, Patriarchat, Kapitalismus und weitere) nach sich ziehen.

Der wegweisende Begriff «Intersektionalität» wurde von Kimberlé W. Crenshaw, einer schwarzen US-Juristin, zehn Jahre nach dem Statement des Combahee River Collective geprägt. Für Crenshaw bedeutet Intersektionalität die Schnittstelle, an der verschiedene Differenzkategorien wie Rassifizierung, Klasse oder Geschlecht in Wechselwirkung stehen und nicht als voneinander unabhängige Kategorien wahrgenommen werden können. Crenshaw zeigte dies am Beispiel eines Gerichtsverfahrens, bei dem eine schwarze Frau gegen eine Firma klagte, die nur schwarze Männer oder weisse Frauen einstellte. Deshalb konstatierte die Firma, dass ihr Einstellungsverfahren weder rassistisch noch sexistisch sei, während sie schwarze Frauen ohne schlüssige Begründung ablehnte. Mithilfe des Begriffs Intersektionalität können solche Überschneidungen von Unterdrückungen sichtbar gemacht werden.

Mit seinen Ursprüngen im schwarzen Feminismus ist Intersektionalität zu einem wichtigen Instrument für die transnationale feministische Bewegung geworden. Für einen inklusiven Feminismus ist es heute wichtiger denn je, intersektionale Perspektiven einzunehmen.

 

Sozioökonomische Gleichstellung und der Streik im Jahre 1991

Unter dem Motto «Wenn Frau will, steht alles still» legten über eine halbe Million Frauen ihre Arbeit am 14. Juni 1991 nieder. Eine zentrale Rolle beim Frauenstreik spielte die sozioökonomische Gleichstellung von Mann und Frau. Zum einen wurden soziale Missstände kritisiert, wie beispielsweise die ungleiche Verteilung von Hausarbeit (heute nennen wir das Care Arbeit, und beschränken das auch nicht mehr auf Arbeit im und ums Haus, wer hat schon ein Haus?!). Anderseits ging es auch um Gleichstellung ausserhalb der privaten Sphäre. Indem die Streikenden gleiche Ausbildungsmöglichkeiten und gerechte Altersvorsorge forderten, strebten sie Verbesserungen für die wirtschaftliche Situation von Frauen an. Zusätzlich verlangten sie die Umsetzung der in der Bundesverfassung verankerten Lohngleichheit. Die genannten Forderungen adressierten zwar grundlegende Probleme vieler Frauen, allerdings bleiben die Bedürfnisse und Forderungen von mehrfach diskriminierten FINTA Personen mehrheitlich ungehört. Anliegen von queeren Menschen wurden nicht wirklich integriert. Die Binarität des Geschlechtermodells wird nicht ansatzweise in Frage gestellt. Auch bei der Forderung nach Gleichstellung in der sozialen Sicherheit sind beispielsweise die Lebensrealitäten von Menschen, die nicht über die schweizerische (oder EU-/EFTA-) Staatsbürger:innenschaft verfügen, nicht berücksichtigt. Von einem Bewusstsein für Intersektionalität kann beim Streik 1991 noch nicht wirklich gesprochen werden.

Wie dem auch sei, der Streik 1991 hat einiges bewegt. So entstand ein breiteres Bewusstsein für die riesige Arbeitslast, die FINTA Personen im Haushalt, in der Kinderbetreuung oder der Pflege von Angehörigen meist unbezahlt stemmen. Auch die Unterbezahlung von feminisierten Jobs, wie beispielsweise in der Pflege oder der Reinigung, rückte gemächlich in den öffentlichen Diskurs. Die Pflegeinitiative, welche Barbara Gysi 2017 mitinitiiert hatte, und die 2021 in einer Volksabstimmung angenommen wurde, kann hier als Beispiel genannt werden. Erfolge zeichneten sich aber auch schon früher ab, wie beim Gleichstellungsgesetz, welches 1995 verabschiedet wurde. Dieses Gesetz wird nach wie vor als ein wichtiges Instrument zur tatsächlichen Gleichstellung von Mann und Frau angesehen.

1991…2019

Trotz einiger Erfolge ist die tatsächliche Gleichstellung der Geschlechter im Jahre 2019 noch lange nicht erreicht. Unter dem Motto «immerno hässig!» riefen die Gewerkschaften erneut zu einem Frauenstreik auf. Die Forderungen, für die abermals eine halbe Million Menschen auf die Strasse gingen, klingen immer noch ähnlich. So forderte etwa der Schweizerische Gewerkschaftsbund die «finanzielle
und gesellschaftliche Aufwertung der Arbeit von Frauen» sowie «Mehr Zeit und Geld für Betreuungsarbeit». 2023 fordert der Gewerkschaftsbund zusätzlich einen flächendeckenden Mindestlohn von 4500 Franken. Allerdings bezieht sich die Forderung auf den Lohn nach abgeschlossener Berufslehre, was Menschen mit Fluchterfahrung oder Menschen mit Behinderung oft verwehrt bleibt. Für intersektionale Ansätze bezüglich sozioökonomischer Gleichstellung bleibt also immer noch Luft nach oben. Allerdings gibt es seit 2019 in unterschiedlichen Streikkollektiven, den Sozialen Medien und auf den Demoschildern der Teilnehmenden vermehrt intersektionale Bezüge zu Unterdrückungsformen wie Ableismus, Rassismus oder Queerfeindlichkeit. Viele der Streikenden lehnen
das binäre Geschlechtsmodell ab und fordern die Inklusion von Geschlechtern jenseits des binären Modells. Schriftzüge wie «Bye Bye Binary» oder «Fuck the Cis-tem» auf Schildern von Teilnehmenden machen dies unmissverständlich klar.

 

Sexualisierte Gewalt

Ein weiteres zentrales Themengebiet, das seit 1991 in den Forderungen enthalten ist, ist Sexismus und sexualisierte Gewalt. 1991 verlangten die Streikenden endlich effektive Massnahmen gegen Vergewaltigung und Gewalt in der Ehe. Nach dem Streik wurde 1996 im Parlament der Antrag gestellt, dass Vergewaltigung und Nötigung in der Ehe strafbar und von Amtes wegen geahndet werden sollen. Erst 2004 wurde dies gesetzlich verabschiedet. Das Thema Sexismus in der Werbung wurde ebenfalls 1991 schon angeprangert und bleibt leider bis heute relevant. Genauso die Forderung nach effizienten Präventionsmassnahmen gegen sexualisierte Gewalt. Erst dieses Jahr hat das Parlament einer Neinheisst-Nein-Lösung zugestimmt. Das ist zwar eine Verbesserung, denn zuvor war der Tatbestand Vergewaltigung erst erfüllt, wenn mit Gewalt gegen den Willen des Opfers angegangen wird. Trotzdem ist die aktuelle Lösung ein kaum zufriedenstellendes Resultat: Gefordert wird nämlich eine Ja-heisst-JaLösung. Seit 1991 wollen die Teilnehmer:innen des Streiks «Respekt statt Sexismus am Arbeitsplatz». Dieses Jahr fordert der Gewerkschaftsbund überdies Sanktionen für Täter:innen, durch die Gesamtarbeitsverträge gesicherte Präventionsmassnahmen und die Ratifizierung und Umsetzung der ILO-Konvention 190.

 

Schlichtungskommission

Angestellte der Bundesverwaltung können sich in Gleichstellungskonflikten an die Schlichtungskommission wenden. Diese kann beispielsweise bei sexualisierter Gewalt, Lohnungleichheit, unrechtmässiger Kündigung einen Rahmen bieten für eine Einigung der Konfliktparteien. Während das Einigungsverfahren für die Angestellten freiwillig ist, ist es für die Arbeitgeberin verpflichtend. Zudem ist die
Schlichtungskommission unabhängig und weisungsungebunden und ihr Verfahren ist für die Angestellten kostenlos.

An der ETH Zürich wurde 2018 die interne Beratungs- und Schlichtungsstelle «Respekt» eingerichtet, die in Fällen von Mobbing, Diskriminierung, Konflikt und Belästigung kontaktiert werden kann. Seither wurden zahlreiche Kampagnen zur Sensibilisierung der Thematik sexualisierter Gewalt durchgeführt. Auf der «Respekt» Webseite sind viele praktische Informationen niederschwellig verfügbar, wie wo die erste, informelle Beratungsstelle ist, bis hin zur Anleitung einer formellen Beschwerde. Während zahlreiche nützliche Informationen für Betroffene von sexualisierter Gewalt oder Belästigung zur Verfügung stehen, sind die Angebote für gewaltausübende Personen begrenzt, geschweige denn die konsequente Thematisierung von Prävention sowie verpflichtende Massnahmen auf Führungsebene.

 

Vereinbarkeit Beruf und Privatleben

Im Bereich der Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben scheint sich bis anhin am meisten bewegt zu haben. Seit 1945 bestand in der Verfassung der Auftrag zur Umsetzung einer Mutterschaftsversicherung. Nach dem ersten Frauenstreik 1991 gab es vermehrt Druck auf die Akteur:innen der Politik und Wirtschaft, bis schliesslich 2005, nach unzähligen erfolglosen Anläufen, die Revision des Erwerbsersatzgesetzes endlich durch die Stimmberechtigten angenommen wurde. Die Mutterschaftsversicherung garantiert Müttern eine Erwerbsentschädigung bis maximal 14 Wochen und einen Mutterschaftsurlaub bis maximal 16 Wochen nach der Geburt. Wer jedoch nicht über die AHV oder über eine Sozialversicherung in einem EU- oder EFTAStaat versichert ist oder den Wohnsitz nicht in der Schweiz hat, wird von der Versicherung ausgeschlossen.

Im Zuge des grossen Streiks 2019 wurde endlich auch der mickrige Vaterschaftsurlaub diskutiert. Erst 2021 wurde ein zweiwöchiger Vaterschaftsurlaub
im Erwerbsersatzgesetz eingeführt, der innert sechs Monate nach Geburt flexibel beziehbar ist. Davor betrug der gesetzlich verankerte Vaterschaftsurlaub lediglich einen Tag! Nach der Annahme der Volksinitiative «Ehe für Alle» gilt der Vaterschaftsurlaub per 1. Juli 2022 nun auch für die Ehefrau der Mutter.
Die Bundesverwaltung als Arbeitgeberin ist bemüht, die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben zu verbessern. So können Arbeitnehmende durch den Unterstützungsfond Beiträge erhalten bei Einkommensausfall aufgrund von Pflege
und Betreuung von Nahestehenden. Auch für Ausbildungskosten von Kindern können Gelder beim Fond beantragt werden. Meistens werden diese Beiträge als Darlehen gewährt, es gibt allerdings auch die Möglichkeit, nichtrückzahlbare Beiträge zu erhalten.

Auch an den Hochschulen gewinnt die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben stetig an Bedeutung. Im Jahr 2002 wurde die hochschulübergreifende Stiftung Kinderbetreuung im Hochschulraum Zürich (kihz) von der Universität Zürich und der ETH Zürich gegründet. Das kihz ist eine hochschulsubventionierte Stiftung, die vergleichsweise günstige Kinderbetreuung für Hochschulangehörige anbietet. Seit der Coronapandemie sind an der ETH Zürich auch flexiblere Arbeitsmodelle verankert, wie beispielsweise Homeoffice, was Betreuungsaufgaben markant erleichtern kann. Diese Entwicklung ist sehr erfreulich, dennoch sollte nicht vergessen werden, dass Homeoffice nicht für alle Beschäftigten möglich ist. Ein intersektionaler Ansatz verlangt nach einer kollektiven Lösung.

 

14. Juni 2023

Der 14. Juni 2023 greift altbekannte Forderungen auf und verdeutlicht, wie viel noch getan werden muss. Doch damit die Bewegung inklusiver wird, müssen intersektionale Perspektiven gestärkt werden. Die ETH Zürich hat dies ebenfalls erkannt und arbeitet per 2024 eine breit angelegte Diversity-Strategie aus, die den bereits bestehenden Gender Action Plan massgeblich erweitert. Auch der Bund ist nachgezogen und legt 2021 mit der Gleichstellungsstrategie 2030 einen Plan vor, um die Gleichstellung von Mann und Frau gezielt zu fördern. Der Fokus auf Geschlecht und dessen binären Interpretation zeigt jedoch auf, dass der Bund in Sachen Intersektionalität noch ganz am Anfang steht. Denn es braucht eine solche Strategie auch für von Rassismus betroffene Menschen, Menschen mit Behinderungen oder Menschen, die von Mehrfachdiskriminierungen betroffen sind. Als konkretes Beispiel für eine intersektionalitätsfördernde Massnahme wäre die generelle Arbeitszeitverkürzung. Auch der SGB fordert 2023 eine Arbeitszeitverkürzung von 30 bis 35 Stunden pro Woche bei einer Vollzeitanstellung. Somit kann beispielsweise die Arbeitslosigkeit gesenkt, die Verteilung unbezahlter Care-Arbeit gerechter verteilt und die klimaschädliche Überproduktion reduziert werden. So viel eine Arbeitszeitverkürzung bewirken könnte, so ist sie doch kein Wundermittel. Damit ein Umdenken passiert, braucht es Druck von der Strasse. Deshalb ist es wichtiger denn je, am 14. Juni zu streiken. Für eine intersektionalere und inklusivere Gesellschaft ist es wichtig, die eigenen Privilegien kontinuierlich zu hinterfragen. Das bedeutet auch, sich immer zu überlegen, wer gerade ausgeschlossen wird, wessen Bedürfnisse vielleicht noch nicht gehört werden und welche strukturellen Machtverhältnisse dafür verantwortlich sind. 

Zurück  zur Übersicht

Stärker Zusammen. Werden Sie Mitglied beim PVB und profitieren Sie…

…von vielen Vorteilen wie Rechtsberatung rund um Ihre Anstellung, vielen Vergünstigungen, wirksamer Interessensvertretung und vielem mehr…