Trotz ihres Gesundheitssystems, das zu den teuersten der Welt gehört, belegt die Schweiz in der Rangliste der Länder mit den besten Lebensbedingungen nach wie vor einen guten Platz. Das liegt nicht zuletzt an ihrem Service public. Was trifft also zu: Gibt es zu viel davon? Oder zu wenig? Ist der Service public auch in Krisenzeiten ein Garant für Demokratie? Ein Überblick.
Globale Pandemie, Krieg in Europa, Inflation, Gasund Stromkrise: Die letzten Jahre waren alles andere als einfach. Der PVB hat in der Vergangenheit wiederholt darauf hingewiesen, dass die Schweiz diesen Herausforderungen nicht zuletzt dank ihres starken Service public gewachsen war. Oder wie es Verbandssekretär Luc Python zusammenfasst: «Der Service public umfasst ganz allgemein sämtliche Aktivitäten im Dienst der Gesellschaft. Er ist darauf ausgerichtet, bestimmte Bedürfnisse der Bevölkerung von allgemeinem Interesse zu befriedigen. Er hat demzufolge auch eine gemeinnützige und soziale Funktion. Er ermöglicht allen Menschen den Zugang zu gewissen Gütern und Dienstleistungen und trägt damit zur Solidarität und zum sozialen Zusammenhalt bei.»
Eine uralte Debatte
Laut Barbara Gysi, Präsidentin des PVB und Nationalrätin, ist «ein starker Service public ein Garant für Demokratie, sozialen Zusammenhalt und Chancengleichheit. Das reibungslose Funktionieren des Staates ist untrennbar mit dem ordnungsgemässen Funktionieren des Landes verbunden. Damit der Service public seinen Auftrag erfüllen kann, muss er mit den notwendigen Mitteln ausgestattet werden. Das ist ein ständiger Kampf. Der Service public wird mehr denn je in Frage gestellt: Ein beachtlicher Teil des Parlaments fordert immer wieder Kürzungen staatlicher Leistungen, hauptsächlich aus ideologischen Gründen.» So ist die Mitarbeiterzahl bei Bund und Kantonen ein Thema, das in fast jeder Session wieder auftaucht. Dies, obwohl die Nachfrage nach Personal weiter wächst, um die Leistungen sicherzustellen, die von selbigem Teil des Parlaments gefordert werden, insbesondere in den Bereichen Sicherheit, Migration und Gesundheit. Dies hat zur Folge, dass Leistungen ausgelagert werden müssen, was für den Staat kostspieliger ist und zu einer Verschlechterung der Arbeitsbedingungen führt.
Es gibt Stimmen, die weniger Service public und weniger Staat fordern, andere wiederum sind der Auffassung, dass er, gemessen an den Bedürfnissen der Bürgerinnen und Bürger unzureichend ist.
Kurz: Das Thema ist ein Dauerbrenner.
Wie sähe eine Schweiz ohne Service public aus?
Laut Jérôme Hayoz, Generalsekretär des PVB,
«würde der Verzicht auf Grundversorgungsaufträge wie beispielsweise im Kommunikations- oder Verkehrswesen zu einem Leistungsabbau oder zu Preiserhöhungen in den sogenannten Randregionen führen. Damit würde der territoriale, aber auch der wirtschaftliche Zusammenhalt des Landes gefährdet».
Barbara Gysi fügt hinzu:
«Die Covid-Krise hat gezeigt, dass es in der Schweiz einen starken Service public braucht. Dies gilt natürlich in erster Linie für das Gesundheitspersonal, aber auch für alle anderen Dienstleistungssektoren, die entscheidend dazu beigetragen haben, die Pandemie und deren Folgen in der Gesellschaft zu bewältigen. Der Schlüssel zu diesem Erfolg ist die Schnelligkeit. Ob an den Grenzen, im Gesundheitswesen, in der Armee oder in der Wirtschaft, um nur einige zu nennen: Dem Bund ist es gelungen, in Rekordzeit sinnvolle, durchdachte und pragmatische Lösungen zu präsentieren.»
Reto Wyss, SGB-Zentralsekretär, fasst die Situation wie folgt zusammen:
«In Krisenzeiten kann die Koordination nur zentralisiert erfolgen – und im Sinne einer Grundversorgung muss diese Koordination zu einem grossen Teil durch staatliche Akteur:innen sichergestellt werden, um ein Privatmonopol zu vermeiden. Der Staat oder der Bund kann auch die Finanzierung von Diensten oder Leistungen sicherstellen, die in Krisenzeiten nicht mehr rentabel sind. Wie beispielsweise die beiden ersten Covid-Impfkampagnen im öffentlichen Gesundheitswesen.»
Er spinnt den Faden weiter: «Es würde vielleicht auch ohne Service public gehen, aber anders, nicht für alle und es wäre viel teurer. Eines der besten Beispiele ist die Privatisierung der Eisenbahn in England vor bald dreissig Jahren. Nichts funktioniert. Die Qualität der Infrastruktur ist erbärmlich, die Ticketpreise exorbitant. Auch in Deutschland hat die Auslagerung der Deutschen Bahn vor fast dreissig Jahren zu einer Qualitätsminderung und zu einer Verringerung des Angebots geführt. Der Zustand von tausenden Kilometern Schienen wurde vernachlässigt.»
Für Luc Python ist die Situation klar:
«Das Ziel von Privatunternehmen ist der Profit. Für sie stehen Produktivität und Rentabilität im Vordergrund und nicht der Service public. Sollten öffentliche Leistungen verschwinden, würden grosse Teile der Bevölkerung benachteiligt. Es hätten nicht mehr alle Bevölkerungsgruppen Zugang zu einer qualitativ hochwertigen Grundversorgung mit bestimmten Gütern und Infrastrukturleistungen und diese wären nicht mehr in allen Regionen des Landes zu erschwinglichen Preisen erhältlich.»
Ohne Swissmedic wäre die Sicherheit der Bevölkerung gefährdet
Der Sprecher von Swissmedic, dem Schweizerischen Heilmittelinstitut, erklärt, dass «es ohne Heilmittelgesetz auch keine Reglementierung für Heilmittel bezüglich Zulassungen, Marktaufsicht und strafrechtliche Verfolgung von Gesetzesverstössen mehr gäbe.
Jeder könnte Medikamente herstellen und diese auf den Markt bringen. Jeder könnte auch Medizinprodukte (Pflaster, Herzschrittmacher, Computertomografen usw.) herstellen und auf den Markt bringen und es gäbe diesbezüglich keine Richtlinien. In diesem gänzlich hypothetischen Fall wäre die Sicherheit der Bevölkerung vermutlich
stark gefährdet.»
Undenkbar für das Schweizerische Nationalmuseum
Das Schweizerische Nationalmuseum könnte ohne Service public nicht existieren. Barbara Meglen, Mitglied der Geschäftsleitung: «Gemäss Bundesgesetz über die Museen und Sammlungen des Bundes (MSG) ist das Schweizerische Nationalmuseum (SNM) vom Bund beauftragt, wichtige bewegliche Kulturgüter der Schweiz zu erhalten, das Bewusstsein der Bevölkerung für die Kulturen der Schweiz zu stärken und Objektforschung zu betreiben. Ein völlig privates SNM ist daher absolut undenkbar.»
Wo es hapert…
Das Schweizer Gesundheitssystem, Bestandteil des Service public, gehört zu den teuersten der Welt, was nicht zuletzt auf das Kopfprämiensystem zurückzuführen ist, das in Bezug auf die Finanzierung der Grundversicherung eine himmelschreiende Ungerechtigkeit ist.
«Die Qualität stimmt, aber die Kosten sind sehr hoch. Vor allem, wenn man die Situation beispielsweise mit Dänemark vergleicht, wo die Kosten bei ähnlicher Qualität bedeutend tiefer sind, ohne dass die Arbeitsbedingungen in der Pflege schlechter wären», meint Reto Wyss. «Die Sozialversicherung in der Schweiz, die von
rund fünfzig privaten Unternehmen betrieben wird, ist ein Ausnahmefall. Das Gleiche gilt für die Spitäler. Die öffentlichen Einrichtungen wurden fast alle ausgelagert oder privatisiert. In allen Bereichen des Gesundheitssystems lässt sich beobachten, dass dem privaten Markt Tür und Tor geöffnet wird – dieser hat ein grosses Interesse daran, möglichst viele Leistungen zu erbringen.»
Digitale Herausforderungen
Bereits im Jahr 2016 schreibt Hans Werder, ehemaliger Generalsekretär des Eidgenössischen Departements für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK), in einem Bericht: «Wenn der Service public auch in Zukunft eine starke Stellung haben soll, muss er sich mit der Gesellschaft verändern und neue technologische Entwicklungen aufnehmen. Zentral ist hier die rasante Digitalisierung aller Prozesse bis hin zum «Internet der Dinge». Die schweizerischen Service-public-Unternehmen sind bei diesen Entwicklungen vorne mit dabei. Beispiele für neue Dienstleistungen sind das Bezahlen per Handy, moderne E-Commerce-Lösungen, der elektronische Datenaustausch im Gesundheitswesen, die intelligente Steuerung von Wärmepumpen und damit die Stabilisierung der Stromnetze oder leistungsfähige und sichere CloudLösungen für die Wirtschaft.»
Vier Jahre später schreibt Pierre-Yves Maillard, Präsident des SGB, in einem ausführlichen Dossier: «Zu Beginn der 20er-Jahre des dritten Jahrtausends, wo gigantische private, multinationale Monopole intime Daten über jeden einzelnen von uns sammeln und vermarkten, erscheinen die alten und bescheidenen, demokratisch kontrollierten öffentlichen Monopole a posteriori als wünschenswerter Horizont der Freiheit und Nüchternheit. (…)
Die Zeit des Service public ist zurückgekehrt. Er zeigt sich in Form einer neuen Idee, die es zu rehabilitieren und neu zu begründen gilt, dies unter Berücksichtigung seiner Grundprinzipien, die auch diejenigen einer menschlichen und gerechten Gesellschaft sind.»
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Service public in der Schweiz unter Beweis gestellt hat, wie wichtig er in Krisenzeiten jeglicher Art ist. Ihm stehen aber noch grosse Herausforderungen bevor. Es ist indes undenkbar, auf diesen Garanten für Demokratie und Chancengleichheit zu verzichten. Ansonsten würde die Gefahr bestehen, dass die Kontrolle an private Unternehmen abgegeben wird, die ausschliesslich an Profit und nicht am Wohlergehen der Bevölkerung interessiert sind.