25.09.2022 - Interview mit Sergio Rossi, ordentlicher Professor für Makroökonomie und Geldpolitik an der Universität Freiburg

"Der Staat muss umdenken und aufhören, die Strategien der Privatwirtschaft zu befolgen, die uns in eine säkulare Stagnation geführt haben und wieder zu einer korrekten, auf das Gemeinwohl ausgerichtete Beschäftigungspolitik zurückkehren". 

Wie sind die Wirtschaftsaussichten in der Schweiz?

Kurz- und mittelfristig könnte sich die wirtschaftliche Lage verschlechtern. Grund dafür sind mehrere Faktoren, die sich auf die Kaufkraft der Haushalte auswirken, in einer Zeit, in der die wirtschaftspolitischen Entscheide den aktuellen Problemen nicht gerecht werden. Dies wird wiederum zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit in der Schweiz führen, die sich nur zum Teil in den Daten des SECO widerspiegelt. Zudem wird sich die Zahl der Personen erhöhen, die sich trotz Vollzeitjob in einer finanziell prekären Situation befinden. Eine Folge davon wird ein Rückgang des Verkaufsvolumens von Waren und Dienstleistungen sein, der die Unternehmen dazu zwingen wird, das Beschäftigungsniveau zu senken – in dieser Spirale wird das gesamte Wirtschaftssystem nach unten gezogen.

Die Schweiz ist von der Teuerung betroffen. Die Löhne halten mit den Preiserhöhungen nicht Schritt und die Haushaltskosten steigen kontinuierlich an. Gibt es einen Ausweg aus dieser Sackgasse? Welche Massnahmen würden Sie empfehlen?

In erster Linie sollten die Unternehmen Löhne zahlen, die der Arbeitsproduktivität entsprechen, anstatt Druck auf die Saläre auszuüben, indem sie sich auf eine ungewollte Arbeitslosigkeit berufen, dank der sie in den meisten Fällen jemanden finden, der bereit ist, zu dem gebotenen Lohn zu arbeiten. Zweitens könnte der Staat die Gewinnsteuertarife derjenigen Unternehmen senken, die ihre Löhne entsprechend dieser Arbeitsproduktivität sowie der Profitrate anheben. Ausserdem sollten Unternehmen mit hohen oder sogar gestiegenen Gewinnmargen darauf verzichten, die Verkaufspreise zu erhöhen, um auf diese Weise die Teuerung einzudämmen, die vor allem die bereits mit Schwierigkeiten zu kämpfenden Haushalte belastet.

Unternehmen neigen dazu, Strategien zur Senkung der Arbeitskosten zu entwickeln, um wettbewerbsfähiger zu werden. Die öffentliche Hand tut es ihnen gleich, wenn auch aus anderen Gründen. Was halten Sie von dieser Strategie?

Diese Strategie schadet der gesamten Wirtschaft, da die Arbeitnehmenden auf dem Produktmarkt das Geld ausgeben, das sie auf dem Arbeitsmarkt verdienen. Stockt nun der Konsum oder geht er aufgrund von Lohnsenkungen zurück, werden die Unternehmen die Produktion und damit auch das Beschäftigungsniveau verringern. Dies hat auch für die öffentlichen Finanzen eine Negativspirale zur Folge, da die Steuereinnahmen sinken und zugleich die Sozialausgaben in die Höhe getrieben werden.

Muss der öffentliche Sektor mit gutem Beispiel vorangehen und die Löhne entsprechend anheben oder sich dem privaten Sektor anpassen?

Bis in die 1970er-Jahre war die Vollbeschäftigung das Ziel des öffentlichen Sektors und er bot Arbeitsbedingungen, einschliesslich Löhne, die allen ein würdiges Leben ermöglichten. Dies führte dazu, dass viele Privatunternehmen Arbeitsbedingungen boten, die mindestens so gut waren wie jene des Staates. Auf diese Weise konnten sie diejenigen Arbeitskräfte einstellen, die sie benötigten.

Der Staat muss umdenken und aufhören, die Strategien der Privatwirtschaft zu befolgen, die uns in eine säkulare Stagnation geführt haben und wieder zu einer korrekten, auf das Gemeinwohl ausgerichteten Beschäftigungspolitik zurückkehren.

In den Nachbarländern oder in den USA ist die Inflation noch höher. Der SGB liess verlauten, dass dank der starken Präsenz des Service public eine Senkung der Inflation möglich ist. Sind Sie mit dieser Analyse einverstanden?

Ich bin insofern damit einverstanden, als es nicht das Ziel des Service public ist, Gewinn zu erzielen, sondern Preise zu verlangen, die die Produktionskosten decken. Dies kann die Teuerung bremsen, wenn Privatunternehmen ihre marktbeherrschende Stellung missbrauchen und Preiserhöhungen beschliessen, die im Vergleich zu ihren Produktionskosten übertrieben sind.

Die Rentner:innen leiden ganz besonders unter den steigenden Preisen und Kosten. Die Renten der 2. Säule sinken stetig. Muss das System geändert werden? Was müsste geändert werden?

Es bräuchte eine Reform der 2. Säule, um das Prinzip des «dritten Beitragszahlers», d.h. die Finanzmärkte, abzuschaffen und die Investitionen der Pensionskassen in die Realwirtschaft zu lenken. Auf diese Weise könnte das Volkseinkommen erwirtschaftet werden, das nötig ist, um die Renten der kommenden Rentnergenerationen sicherzustellen. Zudem sollten auch die Arbeitszeit und das Mindestrentenalter gesenkt werden, damit alle Personen arbeiten können, die arbeiten wollen und können, insbesondere die Jungen. Die Reform sollte auch die Finanzierungsmodalitäten der 1. Säule umfassen und eine Mikrosteuer auf bargeldlose Zahlungen einführen, von denen die überwiegende Mehrheit auf den Finanzmärkten getätigt wird.

Wie steht es um die sozialen Ungleichheiten in der Schweiz? Hat diesbezüglich das Gefälle zugenommen?

Die sozialen Unterschiede haben in der Schweiz zugenommen, dies ist auch auf die wirtschaftlichen Folgen der Covid-19-Pandemie zurückzuführen. Diese haben es insbesondere den «Big Pharma» erlaubt, exorbitante Gewinne einzufahren. Davon sollte ein Teil an den Bund fliessen, damit dieser das Gefälle im Interesse aller verringern kann.

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