Amèle Debey, Journalistin BR
«Mobbing und sexuelle Belästigung gab es schon immer, aber heute wird ein Klaps auf den Po bei der Arbeit nicht mehr einfach hingenommen wie noch vor dreissig Jahren. Heute ist dieses Phänomen anerkannt und wir verfügen über Instrumente, um dagegen anzugehen». Mit diesen Worten fasst Carole Wittmann, Leiterin der auf psychosoziale Risiken spezialisierten Clinique du Travail, die Situation zusammen.
Trotz zunehmenden Problemen im Zusammenhang mit Belästigung am Arbeitsplatz (in der Deutschschweiz lag die Prävalenzrate 2018 gemäss der Studie «Mobbing und Cybermobbing bei Erwachsenen» des deutschen Bündnisses gegen Cybermobbing bei 10,6 %) ist es immer noch schwierig, diese genau zu ermitteln. Zwar ist das Bewusstsein dafür – insbesondere mit dem Aufkommen der #MeToo-Bewegung – gestiegen und vor allem junge Mitarbeitende trauen sich eher, sich dagegen zu wehren. Laut Carole Wittmann fehlt es jedoch an Studien: «Sobald die Leute ihre Stelle kündigen, verschwinden sie von der Bildfläche. Wenn jemand einen Selbstmordversuch unternimmt, kann nur schwer überprüft werden, ob Mobbing die Ursache ist oder nicht.»
In der Schweiz fehlt zudem ein rechtlicher Rahmen und die Vorgesetzten wollen die Fälle kaum wahrhaben. «Unter den Bundesangestellten gibt es ungefähr eine Meldung pro Woche wegen Mobbing», erklärt Jonathan Paladino, Jurist beim PVB. «Man muss jedoch wissen, dass nur in wenigen Fällen von Mobbing gesprochen werden kann. Meldungen, bei denen es sich aus rechtlicher Sicht tatsächlich um Mobbing handelt oder bei denen ein entsprechendes Verfahren und eine Untersuchung eingeleitet werden, sind mit fünf bis zehn Fällen pro Jahr eher selten.»
Was ist Mobbing?
Der Begriff Mobbing wurde erstmals in den 1970er-Jahren vom schwedischen Psychologen Heinz Leymann verwendet, der damit boshafte Verhaltensweisen unter Schülerinnen und Schülern und später auch am Arbeitsplatz beschrieb. Er definierte Mobbing als «eine feindliche und unethische Kommunikation, die von einer oder mehreren Personen ausgeht und sich systematisch gegen einen Einzelnen richtet, der infolge des Mobbings in eine hilf- und wehrlose Position gedrängt wird, aus der er sich aufgrund der kontinuierlichen Mobbing-Handlungen nicht befreien kann».
Die Clinique du Travail listet fünf Verhaltensweisen auf, die Mobbing darstellen:
- Beeinträchtigung der Kommunikationsfähigkeit (eine Person daran hindern, sich zu äussern, sie ständig unterbrechen, sie anschreien, Informationen zurückhalten);
- Beeinträchtigung der sozialen Beziehungen (jeglichen Kontakt zu einer Person verweigern, sie nicht grüssen, sie ignorieren, sie ausschliessen, sie isolieren, ihr einen abgesonderten Arbeitsplatz zuweisen, Informationen nicht weitergeben);
- Rufschädigung (eine Person lächerlich machen, Gerüchte über sie verbreiten, sie verspotten, sie erniedrigen, beleidigende Bemerkungen machen, ihre politischen oder religiösen Überzeugungen angreifen);
- Beeinträchtigung der Lebensqualität und der Arbeitssituation (einer Person sinnlose, unpassende oder ehrenrührige Aufgaben zuweisen, sie grundlos kritisieren, ihr wichtige Aufgaben vorenthalten);
- Gesundheitliche Beeinträchtigungen (Drohungen oder körperliche Gewalt, eine Person zwingen, gesundheitsschädigende Arbeiten zu übernehmen, tätlicher Angriff).
Folgen
Die Folgen von Mobbing können von Stress bis hin zu einem tiefgreifenden Unwohlsein reichen, das zunimmt, wenn die Situation andauert. Das berufliche Umfeld, in dem wir einen Grossteil unserer Zeit verbringen, wird dann zu einem feindlichen Terrain, gleichbedeutend mit ständigen Qualen. Laut Carole Wittmann können die Folgen schwerwiegend sein: «Entweder reicht die Person ihre Kündigung ein, wird krankgeschrieben und das Problem verschwindet in der Versenkung. Oder das Opfer leidet so sehr, dass es am Arbeitsplatz nicht mehr richtig funktioniert und somit zu einem Problem für den Arbeitgeber wird. Durch die Entwicklung von verbalen oder verhaltensbezogenen Abwehrmechanismen kann es sogar sein, dass die Person selber anfängt, zu mobben.»
Schlimmer noch: Es kommt sogar vor, dass Mobbing so weit geht, dass das Opfer in den Selbstmord getrieben wird. Auf die Frage nach der Häufigkeit solcher Dramen antwortet die Leiterin der Clinique du Travail: «Schwarze Gedanken sind häufig, aber nicht selten werden sie auch in die Tat umgesetzt.»
Mobbing hat viele Facetten
Eine Variante von Mobbing ist Bossing, das aus einer Logik der Macht entsteht. Gemäss einer im Jahr 2000 veröffentlichten Studie der Universität Freiburg beschreibt es die Drangsalierung eines Mitarbeitenden durch die oder den Vorgesetzten.
Ein am 27. April 2022 veröffentlichter Bericht des Bundesrats liefert Zahlen zur sexuellen Belästigung in der Schweiz: 20 bis 60 % aller Frauen wurden bereits einmal belästigt und 30 % der Straftaten konnten nicht aufgeklärt werden, da der Tatbestand nur schwer nachweisbar ist. Was das Bundespersonal betrifft, so berichtet der PVB von drei bis fünf Meldungen wegen sexueller Belästigung pro Jahr. Elias Toledo, stellvertretender Generalsekretär des PVB und für das VBS zuständig, sagt, dass er immer häufiger von Mitgliedern kontaktiert wird, die Fälle von sexueller Belästigung oder Situationen melden, in denen Grenzen überschritten werden. «Dies können beispielsweise schlüpfrige Witze eher älterer Männer sein, die bewusst in Anwesenheit von Frauen erzählt werden, oder aufdringliche Einladungen zum Apéro bis hin zu Blumensendungen.»
Die Forscherin Karine Lempen, Professorin an der Universität Genf, zeigt in verschiedenen Berichten auf, dass auf Bundesebene sieben von zehn Prozessen von der Klägerpartei verloren werden. Auf kantonaler Ebene sind es sogar 82,8 %. «Die Gerichte scheinen häufig nicht zu verstehen, dass es keine Intention, sexuelle Gefälligkeiten zu erlangen, braucht, damit ein feindseliges Arbeitsumfeld und folglich eine sexuelle Belästigung im Sinne des Gesetzes vorliegt», schliesst die Expertin.
Bei sexueller Belästigung und Mobbing liegt die Beweislast beim Opfer. Dies ist häufig ein schwieriges Unterfangen.
Wie kann man sich wehren?
Auf die Frage nach der Vorgehensweise erklärt der Jurist des PVB: «Im Falle eines Verdachts auf Verletzung der persönlichen Integrität sollten sich die betroffenen Personen oder die Zeugen einer solchen Situation in erster Linie an die «Personal- und Sozialberatung der Bundesverwaltung (PSB)» oder die kantonale Ombudsstelle wenden, wo ihr Anliegen vertraulich behandelt und ihnen kostenlos geholfen wird. Ohne Zustimmung der ratsuchenden Person werden die externen Beratungsstellen nicht tätig, es sei denn, es besteht ein Verdacht auf eine Selbst- oder Fremdgefährdung.»
Das Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann listet auf seiner Website ebenfalls eine Reihe von Regeln auf, die es im Falle einer sexuellen Belästigung zu befolgen gilt: «Nehmen Sie die Belästigung auf keinen Fall hin; reagieren Sie rasch und bestimmt; machen Sie der belästigenden Person mündlich klar, dass Sie deren Verhalten nicht tolerieren – egal, ob es sich dabei um Vorgesetzte oder Arbeitskolleg/innen handelt; zögern Sie nicht, Hilfe zu beanspruchen. Wenn sich trotz Ihrem Nein das Verhalten der belästigenden Person nicht ändert, unternehmen Sie folgende Schritte: Fordern Sie die Person schriftlich auf, das unerwünschte Verhalten zu unterlassen; sprechen Sie mit einer vertrauten Person und führen Sie Tagebuch über die Belästigungen; informieren Sie diejenige Person in Ihrem Unternehmen, die für Fälle von sexueller Belästigung zuständig ist, den Personaldienst oder Ihre/n Vorgesetzte/n; schreiben Sie einen eingeschriebenen Brief an die zuständige Stelle; verlangen Sie, dass interveniert wird. Sie können sich auch mündlich beschweren. Achten Sie darauf, dass Ihre Beschwerde protokolliert wird oder nehmen Sie eine Zeugin oder einen Zeugen mit. Wenn die zuständige Stelle in Ihrem Betrieb nichts unternimmt, können Sie die kantonale Schlichtungsstelle anrufen. Fassen Sie rechtliche Schritte ins Auge. Klären Sie diese sorgfältig ab und lassen Sie sich beraten, z. B. von Gleichstellungsbüros, Beratungsstellen, Gewerkschaften, Personalverbänden oder von einer Anwältin oder einem Anwalt.» Für Personen, die sich bereits in einer fragilen Verfassung befinden, sind diese Ratschläge mitunter jedoch nur schwer zu befolgen.
Zu vermeidende Fehler
Laut den befragten Fachpersonen sollten Opfer von Belästigungen jeglicher Art bestimmte Verhaltensweisen vermeiden, so sollten sie beispielsweise nicht zu lange warten, bis sie sich wehren. Sonst ist die betroffene Person psychisch bereits stark angeschlagen und ihr Verhalten am Arbeitsplatz hat unter Umständen schon darunter gelitten.
Des Weiteren neigen einige Opfer dazu, die Übergriffe losgelöst voneinander zu betrachten. Nach der geltenden Rechtsprechung wird von Übergriffen gesprochen, wenn diese über sechs Monate mindestens einmal wöchentlich vorkommen – einzeln betrachtet, werden sie häufig als Kleinigkeiten wahrgenommen, obschon die Kumulation für die betroffene Person erdrückend ist. Es braucht daher eine Gesamtübersicht.
Einige Opfer neigen dazu, zu vage Angaben in Bezug auf die Übergriffe zu machen. Für die Untersuchung ist es wichtig, diese exakt zu erfassen.
Schliesslich ist Mobbing häufig die Folge eines ungelösten Konflikts. Aus diesem Grund ist es wichtig, sämtliche Streitigkeiten sofort anzusprechen, bevor sie eskalieren. Vorbeugen ist besser als heilen!
Lücken im System
J.C. F.* arbeitet seit 1998 beim EDA. Zwischen Oktober 2016 und Oktober 2017 wurde er nach einer Versetzung von seinem neuen Team gemobbt. Obschon er sich strikt an die Empfehlungen für solche Fälle hielt, hat sich nichts an seiner Situation geändert.
Seine Ansprechpersonen sagten ihm, dass er sich alles nur einbilde und nichts Schlimmes passiert sei. J.C. F.* fand den Einstieg erst nach einer mehrmonatigen Krankschreibung wieder und konnte an seinen Arbeitsplatz zurückkehren. Heute bedauert er, sich nicht früher gewehrt zu haben und berichtet von Lücken im System, durch die er gefallen ist: «Alle Unterlagen für das Personal sind sehr gut gemacht und geben Auskunft über die Vorgehensweise und die Verantwortlichkeiten jeder und jedes Einzelnen. In der Praxis werden diese Verfahrensweisen absolut nicht umgesetzt. Niemand will in diesen Situationen Verantwortung übernehmen. Die Anerkennung eines Falls bedeutet, eine gewisse Verantwortung zu übernehmen, daher ziehen es alle vor, die Sache zu ignorieren.»
Schlimmer noch: Als er seinen Vorgesetzten die Übergriffe meldet, wird er gewarnt, dass dies nicht ohne Folgen für seine Karriere bleiben würde. Jean-Christophe Favre meint dazu: «Die Leute handeln beim EDA zögerlicher, weil sie einem Versetzungsprozess unterliegen. Die Leute, die meine Bewerbungen für eine neue Stelle begutachteten, waren die gleichen Leute, bei denen ich mich beschwert und denen ich mich anvertraut habe. Viele Leute wollen daher nicht darüber sprechen und stecken lieber ein, weil sie Angst um ihre Karriere haben. So hat man uns fast ein wenig in der Hand.»
*Name ist der Redaktion bekannt
Rolle der Gewerkschaften
Jean-Christophe Favre berichtet auch von Versäumnissen der Gewerkschaften: «Man ist stets der einzige bedauerliche Fall in einer gut funktionierenden Organisation. Die Rolle einer Gewerkschaft wäre es, aufzuzeigen, dass es sich nicht um Einzelfälle, sondern um ein grundsätzliches Problem handelt. Eine Gewerkschaft wie der PVB sollte dabei helfen, aufzudecken, dass es viele Fälle von Krankschreibungen und Burnout gibt, um zu zeigen, dass das Problem über den Einzelfall hinausreicht.»
«Der Fall von Jean-Christophe Favre ist beispielhaft, denn er zeigt, wie wenig der Arbeitgeber bereit ist, die Verantwortung für dieses Problem zu übernehmen und es zu lösen», sagt Luc Python, Verbandssekretär des PVB. «Bei Mobbing gibt es oftmals Austrittsvereinbarungen, die verhindern, dass sich die Arbeitnehmenden äussern. Selbst wenn wir beim PVB diesen oder andere Fälle zur Anzeige bringen wollen, können wir aufgrund dieser Geheimhaltungsklausel nichts tun. Wir verfügen jedoch über andere Instrumente, um bei Mobbing-Fällen auf den Arbeitgeber Druck auszuüben, wie beispielsweise die Untersuchungen, die wir durchführen, und über die wir anschliessend die Spitze der Hierarchie unterrichten. Der PVB unterstützt zudem aktiv Mitglieder, die Klage erheben.»
«Mein Problem ist, dass man sich auch fünf Jahre später noch immer nicht mit den strittigen Punkten befasst hat, wie man es hätte tun sollen», bedauert Jean-Christophe Favre. «Ich würde gerne darüber diskutieren, aber ich weiss, dass unter den derzeitigen Bedingungen keine Bereitschaft besteht, dies zu tun. Ich habe gelernt, im Hintergrund zu bleiben. Es sei dahingestellt, ob dies ein Zeichen von Vernunft oder von Resignation ist. Fakt ist: Der Meinungsaustausch ist für eine Organisation wie die unsere wichtig.»