Amèle Debey
Im Privatsektor werden die Beziehungen mit dem Personal in einem Gesamtarbeitsvertrag (GAV) geregelt. Beim Bund wie auch in den meisten Kantonen regeln Gesetzte die Arbeitsverhältnisse. Welches sind die Ergebnisse und Konsequenzen? Eine Bilanz.
Amèle Debey
«Die Sozialpartnerschaft steht für den Willen, dass Arbeitgebende und Arbeitnehmende zusammen nach Lösungen für Personalfragen suchen. Sie impliziert zudem den Einbezug der Gewerkschaften.» Mit diesen Worten fasst Luc Python, Sekretär des Personalverbands des Bundes (PVB), den gesellschaftlichen Fortschritt zusammen, der seit 1911 im Gesetz verankert ist.
In der Praxis äussert sich dieser Fortschritt in den Beziehungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmenden in unterschiedlicher Form: Innerhalb des Bundes und in den meisten Kantonen (mit Ausnahme von Solothurn) regelt das Personalgesetz die Arbeitsbedingungen zwischen Arbeitnehmenden und Arbeitgeber. Im Privatsektor übernimmt der GAV diese Funktion.
Es stellt sich die Frage, wozu es die Gewerkschaften überhaupt braucht, wenn doch das Parlament die Entwicklungen und Änderungen im Bereich des Personalgesetzes verabschiedet. «Der PVB kann, gemeinsam mit den anderen Gewerkschaften, im Rahmen von regelmässigen Treffen mit den Vertreter:innen des Arbeitgebers – der Begleitausschuss der Sozialpartner (BAS) – konkrete Ideen äussern und Massnahmen vorschlagen», erklärt Jérôme Hayoz, Generalsekretär des PVB. «Er trifft sich auch regelmässig mit dem Vorsteher des Finanzdepartements, der oberste Personalchef der Bundesverwaltung. «Meiner Meinung nach sollte die Sozialpartnerschaft jedoch auf gleicher Augenhöhe stattfinden, damit ein Interessenausgleich zustande kommt. In diesem Kontext hat ein GAV einen klaren Vorteil, da er nach dem Verhandlungsprozess immer von beiden Parteien angenommen und verabschiedet werden muss. Dadurch haben die Arbeitnehmenden ein Mitbestimmungsrecht und mehr Macht. Aus diesem Grund präsentiert sich die Sozialpartnerschaft beim Bund zwar anders, aber nicht weniger komplex.»
Zu Beginn der 2000er-Jahre wurden in Unternehmen wie der SBB nach der Abschaffung des Beamtenstatus die ersten GAV eingeführt. Georgio Tuti, der in diesem Themenbereich über eine langjährige Erfahrung verfügt, wurde damit beauftragt, den Übergang sicherzustellen.
Der heutige Präsident der Gewerkschaft des Verkehrspersonals (SEV), die die Arbeitnehmenden der Schweiz in sämtlichen Bereichen des öffentlichen Verkehrs vertritt, erinnert sich: «Es war ein historischer Wendepunkt, denn seit 1927 hatte sich nichts mehr getan. Damit wurden Dinge in Bewegung gesetzt. Für Giorgio Tuti war diese Änderung ein unbestreitbarer Fortschritt, da beiden Parteien mehr Verantwortung übertragen wurde. Zur Zufriedenheit der Arbeitnehmenden: «Bei den SBB haben wir im Jahr nach der Einführung des ersten GAV eine Umfrage unter den Angestellten durchgeführt. Fast die Hälfte der Angestellten hat daran teilgenommen und die Zufriedenheit lag bei rund 90 %!»
Laut dem Sprecher der Gewerkschaft Unia, Lucas Dubuis, haben die GAV im Vergleich zu Arbeitsverhältnissen, die nur durch das Arbeitsgesetz und das Obligationenrecht geregelt sind, zahlreiche Vorteile: Sie legen die Mindestlöhne, den 13. Monatslohn, die Möglichkeit einer Frühpensionierung, eine fünfte Ferienwoche, Arbeitszeiten unterhalb der 45 bis 50 möglichen Arbeitsstunden pro Woche usw. fest. Lucas Dubuis erklärt: «Auf Branchenebene sind diese Bestimmungen wichtige Schutzmassnahmen, um faire Arbeitsbedingungen zu gewährleisten und sicherzustellen, dass der Wettbewerb zwischen den Unternehmen nicht auf Kosten der Gesundheit und der Lebensumstände der Arbeitnehmenden geführt wird. Sie sind zudem ein Garant für die Umverteilung der Arbeitseinkommen.»
Darüber hinaus ermöglicht ein GAV externen Gewerkschaftsvertreter:innen, unabhängig und auf der Grundlage eines von den Arbeitnehmenden erteilten Auftrags zu intervenieren. Dies ist insbesondere bei internen Konflikten, Belästigungen oder bei Mobbing von Relevanz.
«Man kann das Glas halb leer oder halb voll sehen. Die Vorteile des Bundespersonalgesetzes liegen darin, dass der Einfluss der Verwaltung und der Politik sowie die Funktionsweise des politischen Systems in der Schweiz eine grosse Stabilität und damit eine Vorhersehbarkeit der Arbeitsbedingungen gewährleisten. Es ist jedoch absurd, dass der Bund als Arbeitgeber in einem Land, in dem ständig von der Stärke der GAV und der Sozialpartnerschaft die Rede ist, unilateral Entscheidungen treffen kann.»
Er führt weiter aus: «Bei Reorganisationen, die das Personal betreffen, werden wir meist an den Verhandlungstisch eingeladen… ist dies nicht der Fall, fordern wir unseren Anspruch auf Präsenz ein. Wir üben auch eine Aufsichtsfunktion aus, indem wir sicherstellen, dass die Arbeitsbedingungen eingehalten werden und wir schreiten ein, wenn wir von einem Verstoss erfahren. Als anerkannter Sozialpartner können wir uns auch für einzelnen Mitglieder einsetzen, die Schwierigkeiten am Arbeitsplatz haben. Zudem betreiben wir viel Lobbyarbeit im Parlament. Angesichts der aktuellen Zusammensetzung des Parlaments ist es allerdings nicht gerade einfach, Mehrheiten für Anliegen des Bundespersonals zu finden. Aus Sicht eines Gewerkschafters wäre es jedoch eine spannende Herausforderung, einen GAV für das Bundespersonal auszuhandeln. Mit dem Risiko allerdings, dass dies bei einem ungünstigen Machtverhältnis dem Personal schaden könnte.»
Auch Luc Python sagt, dass das BPG zu Frustrationen führen kann: «Die Gewerkschaften werden in der Bundesverwaltung zwar angehört und können ihre Forderungen vorbringen, aber diese bleiben Empfehlungen. Im Rahmen eines GAV, bei dem die Gewerkschaften an den Verhandlungen beteiligt sind, existiert ein Machtgleichgewicht zwischen Arbeitgeber und Gewerkschaften. Bei einem GAV ist alles direkter und es gibt weniger zwischengeschaltete Stellen. Die Arbeitsbedingungen können schneller geändert werden.»
Allem Anschein nach könnte der Wechsel vom Personalgesetz zu einem GAV die Arbeit der Gewerkschaften vereinfachen und ihr mehr Substanz verleihen. Ein gutes Beispiel dafür ist die aktuelle Reorganisation des Bundesamts für Zoll und Grenzsicherheit (BAZG).
Dazu Jérôme Hayoz: «Die Reorganisation des BAZG war von Anfang an umstritten. Die Direktion des BAZG hat zahlreiche Entscheidungen getroffen, die vom Personal nicht verstanden oder nicht ausreichend kommuniziert wurden und zudem die Arbeitsbedingungen verschlechterten. Die Personalverbände und die Gewerkschaften machen regelmässig auf die Missstände aufmerksam. Dies wird zwar zur Kenntnis genommen, aber bei der Umsetzung nicht genügend berücksichtigt. Für uns ist wichtig, nicht zu resignieren und immer wieder auf die Missstände aufmerksam zu machen. Das ist zwar anstrengend, jedoch Teil unserer Arbeit. Diese Reorganisation ist aber noch lange nicht abgeschlossen, denn das entsprechende Gesetz wird erst jetzt dem Parlament vorgelegt. Dann werden wir über neue Möglichkeiten verfügen, um im Sinne der betroffenen Arbeitnehmenden Einfluss zu nehmen.»
In solchen Fällen sind die Arbeitnehmenden auf die Hilfe von Gewerkschaften wie der PVB angewiesen: «Wir setzen uns dafür ein, dass es zu keinem Stellenabbau kommt, sondern alle Mitarbeitenden eine Stelle innerhalb der neuen Organisation finden», erklärt der Generalsekretär. «Der Arbeitgeber muss den Arbeitnehmenden ermöglichen, im Rahmen der neuen Organisation neue Kompetenzen zu erwerben. Denjenigen, die dies wünschen, muss die Möglichkeit geboten werden, sich beispielsweise im Bereich der neuen Technologien weiterzubilden. Das bedeutet, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmenden die Ausbildung, die Zeit und die finanziellen Mittel zur Verfügung stellen muss. Wir setzen uns auch für grosszügige Sozialpläne ein, um die von der Reorganisation betroffenen Personen zu schützen. Die betroffenen Personen müssen aktiv bei ihrer Neuorientierung unterstützt werden.»
Das Personal der verschiedenen Kantone untersteht einem kantonalen Gesetz. Es gibt keinen Gesamtarbeitsvertrag, mit Ausnahme von Solothurn, der eine Vorreiterrolle einnimmt: Die Angestellten der Kantonsverwaltung, aber auch der Gerichte, der Polizei, das Lehrpersonal und sogar das gesamte Spitalpersonal (keine Angestellte des Kantons, sondern von der Solothurner Spitäler AG) sind einem GAV unterstellt.
Mirco Müller vom Solothurner Staatspersonalverband findet äusserst lobende Worte für die in seinen Augen positive Entwicklung. Seiner Ansicht nach wurden die Verhandlungen durch den Wechsel vom Personalgesetz zu einem GAV entpolitisiert: «Heute sind die Verhandlungen mit den Sozialpartnern zielorientierter und tragen entscheidend dazu bei, dass das Personal des Kantons Solothurn positiv gestimmt und zufrieden ist. Mit diesem GAV verfügt der Kanton Solothurn über ein modernes und innovatives öffentliches Personalrecht. Die Arbeitsbedingungen werden nicht «von oben» diktiert, sondern im Rahmen der Sozialpartnerschaft auf Augenhöhe verhandelt. Entscheidungen werden auf der Grundlage von sachlichen Kriterien und nicht aufgrund von politischen Überlegungen getroffen. Zudem ist die Arbeit in einer paritätischen
Kommission flexibler und schneller als der politische Weg mit Absprachen, Verfahren im Kantonsrat usw. Überdies muss das Ergebnis der jährlichen Lohnverhandlungen nur vom Regierungsrat und nicht mehr vom Kantonsrat beschlossen werden.»
Im Kanton Freiburg, wo immer noch das kantonale Gesetz gilt, bedauert man, dass diese Sozialpartnerschaft Schwachstellen aufweist, die einen richtigen Verhandlungsprozess verunmöglichen. Bernard Fragnière, Präsident der Föderation der Personalverbände der Staatsangestellten des Kantons Freiburg (FEDE), erklärt,
weshalb diese Aufgabe so schwierig ist: «Diese Funktionsweise führt dazu, dass sich die Arbeitnehmendenvertretung gegenüber dem Arbeitgeber in einer schwachen Position befindet. Der Staatsrat konsultiert uns, entscheidet in der Folge jedoch allein über die Bedingungen, die er für die Angestellten schafft. Diese Funktionsweise ist unzureichend, gleiches gilt für die Beteiligung der Mitarbeitenden. Dies zeigt sich insbesondere darin, dass die Mechanismen zur Prävention und zum Schutz der Gesundheit der Angestellten nur unzureichend funktionieren, ich denke da insbesondere an Fragen des Konfliktmanagements und des Persönlichkeitsschutzes.»
Könnten die anderen Kantone also dem Beispiel von Solothurn folgen? Der Weg führt über die kantonalen Gesetzgebungsorgane, um das Gesetz zu ändern.
Privatunternehmen, die keinen GAV unterzeichnet haben, unterstehen dem Bundesgesetz über die Information und die Mitsprache der Arbeitnehmer:innenin den Betrieben. Lucas Dubuis von der Gewerkschaft Unia erklärt: «Ab 50 Angestellten können die Arbeitnehmenden eine Personalkommission ernennen, die ihre Interessen gegenüber der Geschäftsleitung der Direktion vertritt. Diese Kommission muss Zugang zu den notwendigen Informationen haben, damit sie arbeiten kann. Dabei stellt sich das Problem des Unterordnungsverhältnisses zwischen den Angestellten und dem Arbeitgeber. In Branchen ohne Sozialpartnerschaft und ohne GAV kann von den Behörden ein Normalarbeitsvertrag verlangt werden und tripartite Kommissionen sind damit beauftragt, die Löhne zu überwachen, um Lohndumping zu verhindern.»
Auch er beurteilt den GAV eher positiv:
«Verordnungen werden ebenfalls verhandelt, aber es gibt stets eine stärkere Vertragspartei. So hatten wir beispielsweise bis 2001 den Beamtenstatus und damit einen sehr guten Kündigungsschutz. Im Zuge mehrerer Revisionen wurden diese Bedingungen immer mehr gelockert, der Schutz hat abgenommen und für den Arbeitgeber ist es leichter geworden, jemandem zu kündigen. Die GAV sind jedoch auch nicht in Stein gemeisselt, die Bedingungen gelten, so lange ein GAV rechtsgültig ist.» René-Simon Meyer fügt hinzu: «Ein Gesamtarbeitsvertrag spiegelt den Geist der Sozialpartnerschaft wider. Beim Bund verfügen wir über eine gemeinsame Absichtserklärung der Sozialpartner des Bundes, die wir unterzeichnen. Das hindert gewisse Amtsdirektor:innen oder Personalchef:innen nicht daran, sich im Alltag über die Gewerkschaften und damit über die Sozialpartnerschaft in ihrem Amt lustig zu machen. Dafür gibt es jede Menge Beispiele und die betroffenen Angestellten müssen die Konsequenzen tragen. Unsere Verbandssekretär:innen sind regelmässig damit konfrontiert. Daran würde auch ein GAV nichts ändern – es gibt auch unter den Unterzeichnenden eines GAV schlechte Beispiele.»
Es wird gemunkelt, dass die Gewerkschaften in gewissen Situationen gar keinen GAV wollen, weil sie der Meinung sind, dass die Angestellten durch das kantonale Gesetz besser geschützt sind. Sie befürchten ein Ungleichgewicht bei den Verhandlungen des Gesamtarbeitsvertrags, das zu schlechteren Bedingungen für die Angestellten führen
würde.
Auf die Frage, weshalb Freiburg nicht dem Beispiel von Solothurn folgt, antwortet Bernard Fragnière:
«Aus Angst vor einem Verlust des öffentlich-rechtlichen Status, mit der Gefahr, dass die Verwaltungen die Bedingungen des öffentlichen Sektors an die weniger vorteilhaften Bedingungen des Privatrechts anpassen würden.»